Neue Arbeitswelt: Allianz macht Homeoffice zur Dauerlösung – mit weitreichenden Folgen
Auch traditionell konservative Unternehmen wie der Versicherer erkennen den Wert der Digitalisierung und nutzen die Corona-Erfahrungen zum Umbau.
Allianz-Gebäude I Der Konzern wird Bürofläche minimieren müssen.
Binnen weniger Tage verlagerte der Versicherungskonzern Allianz im März wegen der Coronakrise 90 Prozent der Arbeit ins Homeoffice und sagte sämtliche Dienstreisen ab. Für den vielfliegenden Konzernchef Oliver Bäte war dies eine völlig überraschende Erfahrung, die ihm neue Erkenntnisse bescherte. „Ich bin manchmal erheblich produktiver“, bekannte er im Juli öffentlich. Vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehe es ähnlich.
Es ist eine Feststellung, die nun wohl dauerhaft Konsequenzen für den gesamten Konzern mit seinen rund 150.000 Mitarbeitern weltweit haben wird. Die Allianz erwarte, dass längerfristig bis zu „40 Prozent der Mitarbeiter von zu Hause arbeiten“ werden, sagte Allianz-Vorstand Christof Mascher dem Handelsblatt. „Aber auch eine höhere Zahl ist möglich.“
„Home, sweet home“: Für den konservativen Versicherer kommt der Wandel einer Revolution gleich. Gelten die Versicherer doch als eine der traditionell konservativsten Branchen in Deutschland. Aber nun will das Dax-30-Schwergewicht die Erfahrungen mit Heimarbeit während der Corona-Pandemie nutzen, um die Arbeitswelt innerhalb des Versicherungskonzerns komplett umzubauen.
Wandel durch Corona: Es wird weniger gependelt
Selbst in der Lebensversicherung habe man es geschafft, den in der Krise fehlenden persönlichen Kontakt zwischen Beratern und Kunden zu ersetzen, frohlockt der Konzern. Die Münchener zählen damit in Deutschland zu den Vorreitern beim Homeoffice.
Auch beim Dax-Konzern Siemens dürfen die Mitarbeiter künftig drei Tage die Woche von zu Hause aus arbeiten. Und bei den ersten Banken hat das Nachdenken über die neue Freiheit am Schreibtisch ebenfalls längst begonnen.
Corona ist damit dabei, die Arbeitswelt nachhaltig zu verändern und einen Abschied von der Präsenzkultur einzuläuten. Vor allem die großen US-Tech-Konzerne scheinen das Homeoffice-Modell auch nach der Bewältigung der Krise vorantreiben zu wollen.
Die Arbeitnehmer stehen nicht mehr jeden Morgen und jeden Abend in überfüllten Zügen oder auf verstopften Autobahnen herum und gewinnen so wertvolle Zeit, die sich produktiv nutzen lässt.
Enormes Einsparpotenzial: 30 Prozent der Bürofläche werden nicht gebraucht
Ganz ohne ökonomische Hintergedanken ist der neue Hang zur Heimarbeit im großen Stil allerdings nicht. Versprechen sich die Firmen doch auch einen wirtschaftlichen Nutzen davon, wenn künftig deutlich mehr Angestellte und Arbeiter dem Firmenbüro fernbleiben. „Die Standorte müssen überprüft werden, es geht vor allem um die Ausstattung“, sagt Allianz-Vorstand Mascher. Rund 30 Prozent Bürofläche werde wahrscheinlich längerfristig nicht mehr gebraucht.
Das habe auch Konsequenzen in der Planung neuer Projekte: „Natürlich schauen wir uns auch Büroflächen noch einmal neu an, die wir bisher in der Planung hatten“, sagt der Allianz-Vorstand.
„Wo wir beispielsweise bisher mit tausend Arbeitsplätzen geplant hatten, müssen wir nun überlegen, wie wir das virtuell und physisch zusammenbringen.“ Hier rechne der Konzern damit, dass sich die physische Bürofläche reduzieren lässt. Auch von den Reisekosten ließen sich dauerhaft sogar 50 Prozent einsparen, heißt es im Management.
Weiterhin im Büro treffen – nur seltener
Bisher setzte die Allianz – wie viele andere Unternehmen auch – darauf, ihre Mitarbeiter in Firmenzentralen und großen Büros an einem Ort zusammenzubringen. Allein auf dem Campus des Versicherers in München-Unterföhring, wo die Zentrale der Allianz Deutschland in einem Gewerbegebiet residiert, arbeiten derzeit noch rund 8000 Beschäftigte auf einer Fläche von gut 390.000 Quadratmetern. Doch die neue Allianz nach Corona könnte künftig deutlich digitaler und dezentraler aussehen als bisher.
„Jetzt sehen wir, dass wir zentrale Betriebsfunktionen virtuell darstellen können“, sagt Mascher. „Wir können digital um einen Tisch sitzen. Deswegen werden wir künftig mit kleineren Büros arbeiten.“ Der Versicherer werde aber nicht vollständig auf die physische Präsenz verzichten und wolle das auch nicht.
Die Folgen könnten dennoch weitreichend sein. Der Deutschlandchef der Unternehmensberatung Bain & Company, Walter Sinn, geht davon aus, dass künftig 20 bis 30 Prozent der Büroarbeitsplätze in Deutschland überflüssig werden. Nach Berechnungen der Berater könnten in den nächsten fünf bis sieben Jahren zwischen drei und fünf Millionen Beschäftigte ihren Arbeitsplatz aus dem Firmenbüro wegverlagern.
Viele Unternehmen in Deutschland wollen einer Studie zufolge nach der Coronakrise am Homeoffice festhalten – auch in der Industrie. Das geht aus einer Auswertung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hervor.
Digitalisierungsschub für den Versicherer
95 Prozent aller Manager glauben nach einer Umfrage inzwischen, dass die verstärkte Nutzung von Homeoffice die Krise überstehen werde. Alexander Otto, Chef von ECE, dem größten Betreiber von Einkaufszentren in Europa, sagte dem Markt jüngst bereits eine weitreichende Neuordnung voraus.
Denn Corona hat vielen Branchen einen unerwarteten Digitalisierungsschub verpasst, der die neue Freiheit mit ermöglicht. So zog auch der Münchener Versicherungsriese im Schatten der Pandemie einige digitale Projekte vor. „Wir haben die Coronakrise zum Anlass genommen, unsere Prioritäten zu überarbeiten“, sagt der Topmanager Mascher.
„Dabei sind wir zum Schluss gekommen, dass wir Projekte wie den Wandel zu einem digitalen Versicherer beschleunigen.“ So seien einige Transformationsprojekte noch schneller umgesetzt worden, was auf einen extrem großen Widerhall in der Organisation gestoßen sei. Viele Skeptiker hätten gerade während der Coronakrise erkannt, welchen Wert die Digitalisierung für den Konzern habe.
Krise hat das Geschäftsmodell beschleunigt
So will die Allianz schon im nächsten Jahr wieder an die Gewinne vor der Coronakrise anknüpfen. „Ich hoffe, dass wir 2021 wieder einigermaßen zurück sind, wo wir ursprünglich hinwollten“, kündigte Vorstandschef Oliver Bäte Anfang Juli an. Voraussetzung dafür sei aber, dass es nicht zu einer zweiten Corona-Welle mit weltweiten Ausgangsbeschränkungen und Marktverwerfungen komme.
In den Monaten von April bis Juni erzielte der Versicherer einen operativen Gewinn von 2,6 Milliarden Euro. Das sind knapp 19 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum, als 3,2 Milliarden Euro verdient wurden. Jedoch erreichte die Allianz so das oberste Ende der Analystenschätzungen, die von einem Ergebnis in der Spanne von 2,2 bis 2,6 Milliarden Euro ausgegangen waren. Konzernchef Oliver Bäte wertete die Zahl als robustes Ergebnis, das die „bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit“ des Konzerns zeige.
Der Konzern hatte sein Ziel eines operativen Ergebnisses von 11,5 bis 12,5 Milliarden Euro Ende April zurückgenommen und erwartet 2020 nun den ersten Gewinnrückgang seit neun Jahren. „Aber für unser Geschäftsmodell führt die Krise eindeutig zu einer Beschleunigung“, sagt Allianz-Vorstand Mascher.