Coronakrise und Recruiting: Warum digitale Bewerbungsprozesse an Fahrt gewinnen
Deutschlands Unternehmen passen ihre Bewerbungsprozesse an – aus wirtschaftlichen, aber auch aus praktischen Gründen. Viele Recruiter müssen ihr digitales Know-how jetzt auf Vordermann bringen.
Digitales Recruiting I Während der Coronakrise werden Bewerbungsgespräche immer öfter per Video geführt.
Digitales Recruiting hat durch die Coronakrise stark an Bedeutung gewonnen. Es bringt Zug in den Bewerbungsprozess – was viele Bewerber sicher freut. Für die Mehrheit der Personaler hat es in der näheren Zukunft sogar höchste Priorität.
Doch obwohl Gespräche per Webcam, zeitversetzte Video-Interviews oder intelligente Bewerbermanagement-Systeme auch schon vor der Krise genutzt wurden, reicht der bisherige Umgang und das aktuelle Wissen bei vielen Recruitern nicht dafür aus, um den gesamten Bewerbungsprozess ab jetzt hauptsächlich digital abzuwickeln.
Das beweisen unabhängig voneinander zwei gerade erschienene Trendstudien von Stepstone zusammen mit dem Bundesverband der Personalmanager (BPM) und Stellenanzeigen.de in Kooperation mit der Unternehmensberatung Meta HR.
„Die Arbeitgeber haben in der Coronakrise final erkannt, dass effektive digitale Recruitingprozesse für Kandidatenansprache und Personalauswahl unverzichtbar sind. Deshalb wollen viele hier weiter aktiv werden“, sagt Christoph Athanas, Geschäftsführer von Meta HR.
Je größer das Unternehmen, desto eher folgte eine Anpassung des Recruitingprozesses zeigte die Studie von Stellenanzeigen.de / Meta HR. Während bei den kleineren Unternehmen 46 Prozent eine Anpassung vornahmen, waren es bei Konzernen über 80 Prozent.
Spontane Anpassungen im digitalen Recruiting
Einen direkten Einfluss auf die Nutzung digitaler Tools hatte die Coronakrise hier:
- Live-Video-Interviews
Deutlich am häufigsten wurde auf sie zurückgegriffen, etwa mit Lösungen wie Microsoft Teams, GoToMeeting, Zoom oder Skype. Bis zu drei Viertel der Unternehmen machten davon Gebrauch. - Telefoninterviews
Statt der üblichen Face-to-Face-Interviews, auf die mehr als zwei Drittel der Unternehmen aufgrund der Corona-Vorgaben verzichteten, setzten rund 45 Prozent auf das reine Gespräch am Telefon. - Zeitversetzte Video-Interview-Lösungen
Dieses Recruiting-Instrument nutzten die wenigsten Unternehmen. Denn solche Recruiting-Lösungen benötigen zur Einführung in die Recruiting-Organisation meist einige Wochen.
Digitale Auswahlprozesse
Auf weitere digitale Auswahlprozesse hatte die Coronakrise keinen direkten Einfluss. Sie werden bereits genutzt, könnten aber aufgrund des gewonnenen Zuspruchs der Personaler für digitale Themen profitieren.
- Neben digitalen Interview-Lösungen greifen Personaler regelmäßig auf Bewerberdatenbanken zu und suchen dort nach passenden Kandidaten. Das ist bei 43 Prozent der Unternehmen der Fall, wie die Stepstone/BPM-Studie zeigt.
- Knapp ein Viertel der Unternehmen verwendet E-Assessment-Tools. Unabhängig von Ort und Zeit stellen Personaler mittels dieser Methode bereits frühzeitig fest, inwiefern die Kandidaten auch überfachliche Qualifikationen oder Skills vorweisen.
- Digitale Cultural-Fit-Tests gehören bei 15 Prozent der Unternehmen zum Auswahlprozess. Damit prüfen sie die Passform der Kandidaten zur Unternehmenskultur hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen, ihrer Motivation und ihres Engagements.
Fit für Remote-Recruiting?
Beide Studien haben herausgefunden, dass es in den HR-Abteilungen noch einen großen Bedarf gibt, sich auf Recruitingmethoden einzustellen, die remote – also ohne direkte persönliche Begegnung – durchgeführt werden. Knapp ein Drittel fühlt sich vollständig fit, der Rest muss dazu lernen, sagen die Teilnehmer der Stellenanzeigen.de/Meta HR-Studie. Fast ein Viertel fühlt sich dem nicht beziehungsweise eher nicht gewachsen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die Trendstudie von Stepstone/BPM: Gut jeder zweite Recruiter hat während der Corona-Krise festgestellt, dass ihm Know-how und Erfahrung im Umgang mit digitalen Recruiting-Instrumenten fehlen.
Wertvolle Erfahrungen mit digitalen Recruiting-Instrumenten
Denn die Umfrageergebnisse zeigen, dass die veränderte Rekrutierungspraxis einige HR-Experten zum Nachdenken gebracht hat: So hatten noch im Januar – und damit Wochen vor dem Ausbruch der Pandemie – zwei Drittel der Befragten angegeben, mit ihren Digital-Skills gut für die nächsten Jahre aufgestellt zu sein. Drei Monate später sah für sie die Sache anders aus: Nachdem sie auf die digitalen Recruiting-Instrumente mehr oder weniger angewiesen waren, wollten elf Prozent weniger der Personaler diese Aussage erneut unterschreiben.
Ungeachtet dessen, sei die generelle Bereitschaft, digitale Tools zu nutzen, dennoch vorhanden: Über „wertvolle Erfahrungen mit digitalen Recruiting-Tools“ berichtet immerhin jeder Dritte. Zudem sind sich 56 Prozent sicher, dass der Einsatz solcher Instrumente künftig stark zunehmen werde.
„Die Ergebnisse zeigen, dass wir uns um die digitale Weiterbildung unserer Recruiter kümmern müssen“, resümiert BPM-Präsidiumsmitglied Yasmin Kurzhals. Das gelte nicht nur für das Aneignen zusätzlicher technischer Skills. Die Personaler müssten auch dafür sensibilisiert werden, „inwieweit ein Kandidat die digitale Ansprache überhaupt akzeptiert“. Sie plädiert dafür, offener zu werden, digitale und datenbasierte Werkzeuge auszuprobieren und den Mehrwert für die eigene Personalrekrutierung zu bewerten.
Ausblick der Bewerbungsprozesse bis zum Jahresende:
Die Coronakrise scheint diesen Umstellungsprozess bereits in Gang gebracht zu haben: Mehr als 50 Prozent der befragten Personaler gaben in der Stellenanzeigen.de/Meta HR-Studie an, dass ihre Unternehmen die Recruiting- und Personalmarketingbudgets bis Jahresende kürzen wollen. Aber nur 15 Prozent der Unternehmen setzen zurzeit auf verstärkte Personalgewinnung – und zwar in diesen Branchen und Berufsfeldern:
- Banken / Versicherungen,
- Unternehmen aus dem Bereich Telekommunikation / IT,
- aus dem Chemie- / Pharma-Sektor und
- öffentliche Arbeitgeber / Behörden.
Um die am besten geeigneten Fach- und Führungskräfte für sich zu gewinnen, wollen aber mehr als ein Viertel der Unternehmen ihre vorwiegend online geschalteten Stellenanzeigen überarbeiten. „Nach der anfänglichen Schockstarre, die durch die ganze Branche ging, befinden wir uns bereits wieder in einer stabilen Aufwärtskurve“, stellt Peter Langbauer, Geschäftsführer von stellenanzeigen.de.
Damit müssen Bewerber rechnen:
Welche Maßnahmen werden an Bedeutung zunehmen? Welche Instrumente werden verstärkt zum Einsatz kommen? Dazu sagen die Studien Folgendes:
- Mehr als die Hälfte der Unternehmen hat vor, die Recruitingprozesse weiter zu digitalisieren. Erstaunlich: Erst bei knapp einem Drittel der Unternehmen – darunter viele kleine und kleinere mittelständische Unternehmen – sind digitalisierte Recruiting-Instrumente überhaupt im Einsatz.
- Um eine verbesserte Interviewführung will sich rund ein Drittel der befragten Unternehmen kümmern. Genauso viele wollen die Personalauswahl insgesamt auf ein höheres Niveau befördern. Offenbar rechnen die Arbeitgeber damit, angesichts steigender Arbeitslosenzahlen bald noch mehr Auswahlkompetenz zu benötigen, so die Einschätzung der Studienautoren.
- 20 Prozent der Unternehmen planen, ein Bewerbermanagement einzuführen oder zu optimieren. Ein solches Tool ist bei etwa der Hälfte der Unternehmen bereits vorhanden.
Bewerber schätzen schnelle Abwicklung und persönlichen Kontakt
Und wie empfinden Bewerber digitale Bewerbungsprozesse? Stepstone und der BPM haben in ihrer Untersuchung auch die Rolle der Bewerber analysiert. Das Ergebnis überrascht nicht: Mehr als jeder Zweite hat bereits gute oder sehr gute Erfahrungen mit einem digitalen Prozess gemacht. Und 82 Prozent der Befragten stehen dem offen gegenüber.
Neun von zehn Befragten bevorzugen digitale Prozesse vor allem dann, wenn sie für mehr Schnelligkeit und Effizienz sorgen. Das bestätigt frühere Studien, in denen Bewerber immer wieder beklagt hatten, dass sie zu ihrer Bewerbung kein oder nur ein sehr spätes Feedback erhalten hätten.
Ab dem Zeitpunkt des Vorstellungsgesprächs wünschen sich Bewerber hingegen den persönlichen Austausch. „In vielen Unternehmen dauern Bewerbungsprozesse immer noch zu lange“, sagt Anastasia Hermann, Studienleiterin bei Stepstone. „Recruiter haben durch die Coronakrise aber offensichtlich zunehmend mehr Erfahrungen mit digitalen Tools gesammelt. Die vergangenen Wochen können daher auch als richtungsweisend betrachtet werden, wie Bewerbungsprozesse künftig besser und einfacher umgesetzt werden können.“
Mehr: Wo Bewerber in der Krise hinwollen und in welcher Branche sie die meisten Chancen haben